Fachpersonen auf Sozialdiensten und Sozialberatungsstellen kommt die Aufgabe zu, Betroffene zur selbständigen Geltendmachung der Ansprüche zu befähigen. Oder aber entsprechende Ansprüche abzuklären oder geltend zu machen. Knowhow zum Sozialversicherungsrecht und den entsprechenden Ansprüchen gehört somit zur unabdingbaren DNA professioneller Sozialberatung.
Das System der Sozialversicherungen bietet für bestimmte soziale Risiken Schutz vor finanziellen Folgen. Adressaten des Schutzes sind zum Teil die erwerbstätigen Personen, zum Teil die hier wohnhaften oder sich für längere Zeit aufhaltenden Personen. Das System wird häufig in fünf Bereiche unterteilt:
- Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge
- Schutz vor Folgen einer Krankheit und eines Unfalls
- Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft
- Arbeitslosenversicherung
- Familienzulagen
Diese Versicherungen leisten Schutz, indem sie Geldleistungen ausrichten oder indem sie als Sachleistungen bestimmte Kosten tragen.
Aktuelle Reformen
Der Ausbau in der heutigen Form des Sozialversicherungssystems wurde vorläufig mit der Einführung der Mutterschaftsversicherung 2005 und des Rahmengesetzes zu den Familienzulagen 2009 abgeschlossen. Eine Erweiterung, etwa um Ergänzungsleistungen für Familien, hat sich nur in einzelnen Kantonen etabliert. Während der letzten 10 Jahre stechen nun drei Reformfelder hervor:
- Die Reform der Arbeitslosenversicherung, welche Anspruchs- und Leistungskürzungen mit sich brachten.
- Reformen im Bereich der Pflegefinanzierung, wo einerseits der Beitrag der Krankenversicherer an Leistungen plafoniert wurde. Andererseits wurden im Rahmen des neuen Finanzausgleichs kantonalrechtliche Pflegemehrkostenfinanzierungen eingeführt. Zudem wurde der Zugang zu den Ergänzungsleistungen und den Hilflosen-Entschädigungen aufgrund des steigenden Pflege und Betreuungsbedarfs erleichtert.
- Drei grosse Reformschritte in der Invalidenversicherung 2004, ´08 und ´12, welche die berufliche Integration Behinderter verstärkten, die Überprüfungsmöglichkeiten der Ansprüche der IV-Stellen verbesserten, gewisse Leistungskürzungen mit sich brachten und den Assistenzbeitrag einführten.
Einige wesentliche Reformen sind derzeit in Vorbereitung:
- Das grösste Bauwerk ist dabei sicherlich die Reform der Altersvorsorge 2020. Sie bringt relevante Veränderungen im Bereich der ersten, zweiten und dritten Säule. Unter anderem sind in der im September zur Abstimmung gelangenden Vorlage eine Erhöhung des Rentenalters, Flexibilisierungen beim Altersrücktritt und eine Senkung des Umwandlungssatzes in der zweiten Säule vorgesehen. Einen gewissen Ausgleich bieten die Senkung der Eintrittsschwelle bei Teilzeitbeschäftigten für den versicherten Verdienst in der zweiten Säule und die Erhöhung der Rente der AHV um CHF 70. Insgesamt geht es um einen Abbau von Ansprüchen, mit welchem die demografischen Veränderungen aufgefangen werden sollen.
- In einem weiteren Reformschritt soll die IV weiterentwickelt werden. Die bundesrätliche Vorlage sieht Massnahmen für die drei Zielgruppen Kinder, Jugendliche und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen vor. Dabei soll bei der Invalidenversicherung die berufliche Integration im Bereich der Berufsbildung und hinsichtlich Eingliederungsmassnahmen erweitert werden. Sehr zu begrüssen sind im Weiteren die klare Absicherung von Menschen in Integrations- und Eingliederungsmassnahmen in der Unfallversicherung. Darüber hinaus strebt die Revision eine bessere Koordination der beteiligten Akteure an. Schliesslich soll für die Berechnung der IV-Renten analog zur Unfallversicherung ein stufenloses System eingeführt werden, so dass die Schwellen entfallen würden. Im Parlament dürfte auch eine gewisse Verschärfung der Voraussetzungen für eine Vollrente zur Diskussion gestellt werden.
- Eine der zentralen anstehenden Reformen betrifft die Ergänzungsleistungen (EL). Grund für die Vorlage ist der starke Anstieg der Ausgaben, welche insbesondere im Zusammenhang mit den wachsenden Pflege- und Betreuungsleistungen stehen. Die Reform bezweckt den Erhalt des Leistungsniveaus. Gleichzeitig sollen aber gewisse Anreize, EL zu beziehen, abgeschwächt werden. So soll der Kapitalbezug aus der obligatorischen beruflichen Vorsorge beschränkt werden, auch sollen die Höchstbeträge für die anrechenbaren Mietzinse angepasst werden. Der finanzpolitische Hintergrund der Reform lässt vermuten, dass im Rahmen der parlamentarischen Beratung eventuell ergänzende Zugangshürden eingeführt und das Leistungsniveau beschränkt wird.
Zusammenfassende Trends
Bündelt man die aktuelle Entwicklung der Sozialversicherungen so sticht in genereller Weise Folgendes hervor:
- Das grundlegende System der Sozialversicherungen in der Schweiz steht nach wie vor nicht zur Disposition. Eine Diskussion um einen grösseren Umbau finden zwar in Fachkreisen statt, finden aber im politischen Diskurs bislang nur wenig Resonanz.
- Die Diskussionen um die Weiterentwicklung der Sozialversicherungen sind stark geprägt vom Spardruck. Hingegen sind praktisch keine Vorlagen in Sicht, welche grössere Lücken im System, etwa das Fehlen einer obligatorischen Krankentaggeldversicherung, schliessen könnten.
- Noch immer ungebrochen erscheint der Eifer in der Invalidenversicherung, die Möglichkeiten der Eingliederung und beruflichen Integration zu verbessern. Es ist jedoch zu erwarten, dass im Verlaufe der nächsten Jahre vermehrt die Frage nach dem Nutzen diverser Angebote gestellt wird.
- Die Komplexität und Schwierigkeit bei der Anspruchsklärung für Versicherungsleistungen und insbesondere auch die Koordination haben weiter zugenommen. Insbesondere weil die Invalidenversicherung schon im Vorfeld einer möglichen Invalidität versicherter Personen zu einem wesentlichen Akteur und Finanzierer wurde.
- Da auch der Zugang der Sozialhilfe durch Anspruchsabklärungen und einschränkende Anspruchsvoraussetzungen zunehmend beschränkt wird, steigt gleichzeitig die Bedeutung des Minimalanspruchs auf Notunterstützung, wie er durch das Grundrecht der Nothilfe garantiert wird.
Überdies ist absehbar, dass zukünftige gesellschaftliche Veränderungen Spuren hinterlassen: Der mit der Digitalisierung einhergehende Umbau des Arbeitsmarktes wird wahrscheinlich erhebliche Verwerfungen für die von Erwerbseinkommen stark abhängigen Sozialversicherungen mit sich bringen. Absehbar ist überdies, dass die Frage der Finanzierung von Betreuung und insbesondere von Pflege im Alter stärker in den Fokus rücken wird. Insoweit dürften schwierige politische Entscheidungen unabdingbar sein: Entweder die Erweiterung der Finanzierung durch eine Erhöhung von Beiträgen und Steuern oder dann ein Abbau der Leistungen.
Fazit
Aus den vorgenannten Entwicklungen lässt sich für die Sozialberatung ableiten,
- dass die Eckpfeiler des Systems der Sozialversicherungen in absehbarer Zeit wohl kaum wesentlich verändert werden.
- dass im Bereich der Eingliederung und Integration die Herausforderung der Koordination und der Vermeidung von Lücken weiter besteht und zunimmt. Insoweit wird die Rollenklärung der Fachpersonen auf Sozialberatungsstellen noch bedeutsamer.
- dass das Erschliessen von Geldleistungsansprüchen wohl an Bedeutung, Komplexität und rechtlicher Schwierigkeit zunehmen wird.
Für die Beratungsstellen und die Sozialdienste ist es vor diesem Hintergrund immer wichtiger, dass Wissen und Know-How der Fachpersonen der Sozialen Arbeit in Fragen des Sozialversicherungsrechts erhöht wird und dass eine entsprechende Fachberatung zur Verfügung steht.
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Literatur und weiterführende Links:
- Dummermuth Andreas (2011). Ergänzungsleistungen zu AHV/IV: Entwicklung und Tendenzen. SZS (Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherungen und berufliche Vorsorge) 2/2011, S. 127ff.
- Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich: Überblick über die Reformelemente bei der Altersvorsorge 2020
- Mösch Payot Peter (2016). Sozial(versicherungs)rechtliche Ansprüche und Ressourcenerschliessung. In: Rosch Daniel/Fountoulakis Christiana/Heck Christoph (2016). Handbuch Kindes –und Erwachsenenschutz. Recht und Methodik für Fachleute. Haupt: Bern.
- Riemer-Kafka Gabriella (2014). Vereinfachungen im System der schweizerischen Sozialversicherungen, Problemfelder und Lösungsvorschläge. Bern.
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