Arbeitslosenversicherung: gleiche Regeln, unterschiedlicher Schutz

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Bei einem Stellenverlust sind die Betroffenen je nach Haushaltsform und Familienmodell unterschiedlich stark auf staatliche Unterstützung angewiesen. Das Projekt «Familienmodelle und Arbeitslosigkeit» zeigt auf, wie sich die Wirkung von Arbeitslosentaggeldern unterscheidet und wie die Wirksamkeit der Arbeitslosenversicherung gesteigert werden könnte.

Je nach Haushaltsform und Modell der familiären Arbeitsteilung variiert die Bedeutung sozialstaatlicher Unterstützung. Die heutige Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung (ALV) trägt dem jedoch nur geringfügig Rechnung. Zum Beispiel erhalten Personen mit Unterstützungspflichten Arbeitslosengelder im Umfang von 80 anstatt 70 Prozent des versicherten Lohnes. Die Ansprüche unterscheiden sich jedoch nicht aufgrund der finanziellen Verantwortung im Haushalt, da die ALV auf dem Versicherungs- und nicht dem Bedarfsprinzip beruht.

Seit der Konsolidierung der ALV hat sich die Vielfalt der Erwerbstätigen und ihrer Haushaltssituationen deutlich erhöht. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat deutlich zugenommen und der Anteil von Familienhaushalten mit zwei Elternteilen und Kindern hat sich seit 1970 beinahe halbiert, während sich der Anteil von Einpersonenhaushalten mehr als vervierfacht hat. Der Kontext für die staatliche Unterstützung von Arbeitslosen hat sich somit deutlich gewandelt.

Die Studie

Das vom Schweizerischen Nationalfonds SNF finanzierte Projekt «Familienmodelle und Arbeitslosigkeit» stellt sich daher die Frage, wie unterschiedlich die Wirkung von Arbeitslosengeldern bei den verschiedenen Haushaltstypen ausfällt. Dafür verglich sie Unterschiede in der maximalen Bezugsdauer der ALV, die sich aufgrund der Kürzungen infolge ALV-Reform von 2011 ergeben hatten. Dazu wurden Vollerhebungsdaten der Arbeitslosen-, Bevölkerungs- und Einkommensregister verknüpft. Die Resultate der Studie lassen sich folgendermassen zusammenfassen:

Wiederbeschäftigung

Die untersuchte Kürzung der maximalen Bezugsdauer führt – unabhängig vom Haushaltstyp – zu einer schnelleren Wiederbeschäftigung. Bei der neuen Anspruchsdauer von maximal zwölf Monaten liegt die Erwerbsquote zwölf bis 18 Monate nach Beginn der Arbeitslosigkeit um sieben Prozentpunkte höher. Danach verschwindet dieser Effekt bis zum 23. Monat, da dann auch Personen mit den 18 Anspruchsmonaten, die vor der Revision von der ALV gewährt wurden, keine Leistungen mehr erhalten. Ausnahmen sind hier Männer, die deutlich weniger als ihre Partnerinnen verdienten, und Frauen, die gleich viel wie ihre Partner verdienten. Für sie erhöht die kürzere Anspruchsdauer die Erwerbsquote auch längerfristig.

Wirtschaftliche Unsicherheit

Eine kürzere maximale Bezugsdauer wirkt sich auf die verschiedenen Haushaltsformen jedoch unterschiedlich auf das Risiko wirtschaftlicher Unsicherheit aus – die für einen Einpersonen-Haushalt beispielsweise bei einem Haushaltseinkommen von weniger als CHF 2790 beginnt. Bei alleinlebenden Frauen, Alleinerziehenden und Hauptverdienerinnen steigt die Wahrscheinlichkeit, in eine wirtschaftlich unsichere Situation zu geraten, wenn die maximale Anspruchsdauer auf zwölf Monate sinkt. Dieser Unterschied bleibt auch längerfristig bestehen, wenn der Leistungsanspruch bei beiden Vergleichsgruppen verstrichen ist. Bei Männern, die vor der Arbeitslosigkeit ähnlich oder mehr als ihre Partnerinnen verdient haben, wird das Risiko für wirtschaftliche Unsicherheit durch die kürzeren Leistungen hingegen gesenkt, vermutlich weil sie weniger lange arbeitslos sind.

Beschäftigung und Einkommen der Partner*in

Um einen Teil des Einkommensverlusts zu kompensieren, nehmen Partnerinnen, die vor der Arbeitslosigkeit ihres Partners nicht erwerbstätig waren, häufiger eine Erwerbstätigkeit auf, als dies umgekehrt der Fall ist. Dieser Effekt ist bei langjährig verheirateten Paaren am stärksten. Diese Beschäftigungsreaktion der Partnerinnen war jedoch nicht von der maximalen Bezugsdauer der ALV abhängig.

Scheidungsrisiko

Die Kürzung der maximalen Bezugsdauer erhöhte die Zahl der Scheidungen um 25 Prozent. Erwartungsgemäss waren die Effekte besonders stark, wenn die hauptverdienende Person arbeitslos wurde. Bei Hauptverdienern erhöhte die Reduktion der maximalen Anspruchsdauer die Scheidungsrate um 40 Prozent, bei Hauptverdienerinnen war der Effekt gar eine um 78 Prozent erhöhte Scheidungsrate.

Gesundheit

Um die Auswirkungen auf die Gesundheit zu untersuchen, wurde das Geburtsgewicht und die Körperlänge Neugeborener betrachtet. Diese Indikatoren können Hinweise auf Stress, schlechtes Ernährungsverhalten und ungenügende Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen geben. Zwar gibt es keine Effekte für arbeitslose Väter mit kürzeren Leistungen, aber Mütter mit kürzeren Leistungen bringen in diesem Zeitabschnitt Kinder zur Welt, die 80 Gramm leichter und sechs Millimeter kleiner sind. Auch hier zeigte sich ein besonders starker Effekt (–250 g; –17.5 mm) bei Müttern, die vor der Arbeitslosigkeit Haupternährerinnen waren.

Schlussfolgerungen

Die Kürzungen der ALV wirken sich je nach Haushaltsformen und Familienmodell unterschiedlich aus. Auf der einen Seite sind Männer, die ähnlich oder weniger als ihre Partnerinnen verdienen, durch die Kürzungen besser vor wirtschaftlicher Unsicherheit geschützt, da sie schneller wieder erwerbstätig werden. Auf der anderen Seite sind Frauen, die die finanzielle Verantwortung für den Haushalt tragen, am stärksten von einer restriktiveren Praxis betroffen. Sie geraten langfristig in eine grössere finanzielle Unsicherheit, erhalten kaum zusätzliche Unterstützung von ihren Partnern, haben ein höheres Scheidungsrisiko und sind starken gesundheitlichen Belastungen ausgesetzt. Dazwischen liegen die traditionellen Haushalte mit männlichen Haupternährern, deren Partnerinnen ihr Arbeitspensum leicht erhöhen.

Die Resultate unterstreichen somit die Forderung, die Haushaltssituation bei der Leistungsbemessung der ALV zu berücksichtigen. Dies steht aber im Widerspruch zum bisherigen Gleichbehandlungsprinzip. Eine Alternative zu differenzierten Leistungsansprüchen wäre, wenn Berater*innen der regionalen Arbeitsvermittlungen die Haushaltssituation berücksichtigen. Mit individuell festgelegten Anforderungen an die Arbeitssuche, Sanktionen und Dienstleistungsangeboten besteht im gegenwärtigen System bereits jetzt ein relativ grosser Spielraum. Er könnte eingesetzt werden, um differenziert Druck auszuüben oder Unterstützung anzubieten. Ein möglicher Lösungsansatz hierfür wäre die stärkere Einbindung von Fachkräften der Sozialen Arbeit in das System der ALV.

Eine ausführliche Fassung dieses Artikels finden Sie in der aktuellen impuls-Ausgabe

 


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