Neue Familienformen werfen juristische, pädagogische und therapeutische Fragen auf. Weil das Thema Familie den Kern unseres sozialen Zusammenlebens betrifft, müssen die Antworten darauf auch mit dem aktuellen gesellschaftlichen Diskurs abgeglichen werden. Für die Philosophin Sabine Hohl ist dies der ideale Anlass, um sich grundsätzliche Gedanken darüber zu machen, wozu wir das Konzept der Familie heutzutage eigentlich brauchen. Hierzu stellte ihr «knoten & maschen» vor dem Referat an der Tagung «Schützen, Klären, Kooperieren.» einige Fragen.
Frau Hohl, Sie setzen sich seit Längerem mit Fragen zur Familie aus philosophischer Perspektive auseinander. Was trägt die Philosophie zum Diskurs über die Familie bei?
Sabine Hohl: Die Familie wird bereits seit der Antike in der Philosophie behandelt. Allein schon durch ihre zentrale Rolle im Leben vieler Menschen ist sie auf jeden Fall vertiefter philosophischer Betrachtung würdig. In der heutigen Zeit besteht ein wichtiger Beitrag der Philosophie darin, den gesellschaftlichen Wandel der Familie zu begleiten und Denkanstösse zu weiteren Entwicklungen zu geben, zum Beispiel bei der aktuellen Debatte zum gemeinsamen Sorgerecht als Regelfall nach Trennungen. Hier denke ich weiter und stelle die Frage, warum Co-Elternschaft überhaupt im Rahmen einer romantischen Beziehung stattfinden muss. Warum können nicht platonische Freunde zusammen Eltern sein?

Sabine Hohl ist politische Philosophin, forscht zum Status von Familienbeziehungen in Staat und Gesellschaft und tritt als Referentin an der Tagung «Schützen, Klären, Kooperieren» als Referentin auf.
Sie arbeitet als Postdoc an der Interfakultären Kooperation «Religious Conflicts and Coping Strategies» im Rahmen eines Projekts zur legitimen staatlichen Regulierung von Religion.
Alle haben etwas zur Familie zu sagen, weil alle in der einen oder anderen Form einen direkten Bezug dazu haben. Verstehen Sie dies als Chance oder als Hemmnis für einen fruchtbaren gesellschaftlichen Diskurs?
Das ist ganz klar eine Chance – es sollten bei diesem Thema auch durchaus alle etwas zu sagen haben. Natürlich mag der philosophisch-wissenschaftliche Diskurs zur Familie manchmal eine gewisse Distanz zu alltäglichen Debatten aufweisen. Aber ich mache oft die Erfahrung, dass gesellschaftspolitische Diskussionen doch enge Verbindungen zur philosophischen Debatte haben. Es wird in der gesellschaftlichen Debatte deutlich, dass viele Menschen sich von der Familie Stabilität erhoffen. Auch in der Philosophie gibt es eine Diskussion darüber, ob der besondere Wert der Familie darin liegen könnte, dass sie langanhaltende solidarische Beziehungen verspricht. Ich denke, dass wir uns von dieser Hoffnung verabschieden müssen, weil Personen nicht zu Erhalt von Beziehungen gezwungen werden sollten. Aber die Debatte darüber ist sehr wichtig.
Nicht nur private, sondern auch verschiedene professionelle Haltungen treffen beim Thema Familie aufeinander. Ob juristisch, pädagogisch oder therapeutisch: Die Zugänge sind selten deckungsgleich. Kann die Philosophie – die in keine Professionslogik eingebunden ist – die Rolle der Vermittlerin einnehmen, einen gemeinsamen Orientierungsrahmen schaffen?
Ja! Als Philosophin schafft man es idealerweise, den Diskurs zu einem bestimmten Thema ein wenig «aufzuräumen» und Klarheit darüber zu schaffen, wie verschiedene Fragestellungen und Perspektiven zusammenhängen. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Kindeswohl, das in vielen verschiedenen Professionslogiken vorkommt, aber oft ungenau beschrieben wird. Hier können wir fragen: Was heisst eigentlich «Kindeswohl» genau? Die Philosophie hat für mich ganz klar die Aufgabe, Orientierung und Klärung zu bieten. Aber selbstverständlich gibt es auch eine Professionslogik in der akademischen Philosophie. Dazu gehört insbesondere, sich nicht zu sehr mit konkreten Empfehlungen aus dem Fenster zu lehnen. Diese gesellschaftliche Erwartung, die oft gehegt wird, wird daher meistens enttäuscht. Einerseits wäre es gut, wenn Philosophinnen und Philosophen auch mal konkreter werden könnten, andererseits fehlt uns manchmal das empirische Wissen, um das auf eine kompetente Weise tun zu können.
Unterschiedliche Akteure und Institutionen aus den Bereichen Soziales, Schule und Justiz intervenieren in das Familiengefüge. Eingriffe in die Familie, insbesondere in einem Zwangskontext, müssen gut begründet und legitimiert werden. Kann die Philosophie einen Beitrag leisten?
Ja, solche Fragen zur Legitimität staatlichen Handelns fallen in den Kernbereich der Politischen Philosophie. Neben der ganz allgemeinen Frage, unter welchen Bedingungen staatliches Handeln legitim ist, gibt es auch eine spezifische Frage zur Familie. Oft wird ja angenommen, dass diese eine speziell geschützte Sphäre darstellt, in die der Staat nicht eingreifen soll. Gleichzeitig definiert die politische Gemeinschaft aber bereits von Beginn weg, was eine Familie überhaupt ist – z.B., welche Rechte und Pflichten Eltern haben. Die Frage ist aus meiner Sicht daher eher, «wie» in die Familie eingegriffen werden sollte, als «ob» überhaupt eingegriffen werden sollte. Letzteres ist unvermeidlich.
Das traditionelle Familienmodell ist einem starken Wandel ausgesetzt. Vereinbarkeitspolitik, Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern, um nur einige Beispiele zu nennen, haben unser Familienbild verändert. Schlägt sich dies in der Art und Weise nieder, wie in Familien eingegriffen wird?
Das klingt zunächst eher nach einer empirischen Frage, die ich entsprechend nicht beantworten kann. Sicher schärfen aber neue Familienformen den Blick dafür, dass die Familie keine unveränderliche Institution ist. Ich würde sagen, dass das Konzept der Familie momentan gesellschaftlich und politisch neu verhandelt wird. Für mich als Philosophin ist das der ideale Zeitpunkt, um mir grundsätzliche Gedanken darüber zu machen, wozu wir das Konzept der Familie eigentlich brauchen. Meiner Meinung nach führt die ideologische Aufladung von «Familie» oft dazu, dass Menschen zu viel von diesen Beziehungen erwarten oder andere unter Druck setzen, sich nach einem bestimmten Ideal zu verhalten – dass man z.B. zu Weihnachten zu seinen Eltern nach Hause kommen muss. Ich plädiere dafür, dass wir vermehrt individuelle Beziehungen und deren Qualität in den Blick nehmen, statt zu sehr einer – oft idealisierten – Vorstellung von «Familie» anzuhängen.
«Schützen, Klären, Kooperieren.»
Arbeit am Kindeswohl – eine gemeinsame Aufgabe von Sozialer Arbeit, Bildung und Justiz
27./28. Juni 2019, Eventfabrik, Fabrikstrasse 12, Bern
Eine Tagung der Berner Fachhochschule und der Pädagogischen Hochschule Bern u.a. mit:
- Emanuela Chiapparini (Berner Fachhochschule)
- Patrick Fassbind (KESB Basel-Stadt)
- Wolfgang Hinte (Universität Duisburg-Essen)
- Sabine Hohl (Universität Bern)
- Ueli Hostettler (Pädagogische Hochschule Bern)
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