In Armut aufwachsende Kinder haben ein hohes Risiko für schädliche Einflüsse auf ihre Entwicklung. Lebenslange Auswirkungen auf ihre Gesundheit sind mögliche Folgen. Diese wiederum behindern die Chancengleichheit in einer Gesellschaft.
Wer wir sind, was wir erreichen und wie gesund wir leben, hängt entscheidend von unserem familiären Hintergrund ab und damit von den Ressourcen, die unsere Eltern uns mitgeben. Genetische Veranlagungen spielen ebenfalls eine Rolle. Neuere Studien deuten allerdings darauf hin, dass sie weniger einflussreich sind als vermutet. Demnach können nur gerade zwei Prozent der Unterschiede im Bildungserfolg direkt auf genetische Veranlagungen zurückgeführt werden. Neurowissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass für die kognitive Entwicklung eines Kindes zum einen das Ausmass an kognitiver Stimulation viel entscheidender ist: gemeint ist die Förderung der geistigen Entwicklung zum Beispiel durch abwechselnde anregende Aktivitäten. Zum anderen ist das Ausmass an emotionalem Stress eine wichtige Einflussgrösse. Diese Faktoren beeinflussen, wie gut die verschiedenen Entwicklungsschritte bis zum zwölften Lebensjahr gelingen und damit die Fähigkeiten zur Stressbewältigung und die Wahrnehmung der eigenen Selbstwirksamkeit. Beides wirkt sich entscheidend auf den Umgang mit kritischen Lebensphasen im Erwachsenenalter aus, was wiederum bedingt, wie gut ein Mensch seine Gesundheit erhalten kann.
Armut ist vererbbar
Gerade in von Armut betroffenen Haushalten kann die frühe Förderung der kognitiven Entwicklung zu kurz kommen, weil das knappe Budget die Handlungsmöglichkeiten einschränkt, während die finanziellen Schwierigkeiten oft mit emotionalem Stress einhergehen. Auf diese Weise können sich der soziale Status und die Armut des Elternhauses vererben. Die Vererbbarkeit von sozialem Status und Armut ist aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive aus zwei Gründen ungünstig:
- Geringe soziale Mobilität weist auf mangelnde Chancengleichheit hin. Das Versprechen, dass jeder seine Situation mit ausreichender Anstrengung verbessern kann, bildet aber den Kern einer demokratischen Marktwirtschaft. Ist Chancengleichheit nicht gegeben, unterhöhlt dies die Legitimation des Systems und die Solidarität innerhalb der Gesellschaft.
- Menschen können das in Ihnen innewohnende Potential nur dann entfalten, wenn sie in der Kindheit nicht zu oft negativen Auswirkungen ausgesetzt sind. Selbst Menschen mit vielversprechender genetischer Veranlagung reüssieren im späteren Leben nicht, wenn sie in einem sozioökonomisch schlechten Umfeld aufwachsen. Vererbte Armut gefährdet deshalb die Innovationskraft einer Gesellschaft.
Wie stark das Elternhaus die Erfolgschancen eines Sprösslings mitbestimmt, ist letztlich auch durch die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates beeinflusst. Wenn Familien unabhängig von der Größe des Portemonnaies Zugang zu Aktivitäten und Beratung haben, kann es ihnen auch mit knappen finanziellen Mitteln gelingen, ein förderliches Umfeld zu schaffen. Auch Sozialleistungen, Angebote zur Kinderbetreuung und ein durchlässiges Bildungssystem können sozioökonomische Unterschiede ausgleichen.
Die soziale Herkunft beeinflusst das Krankheitsrisiko
Anlässlich der 3. Nationalen Tagung «Gesundheit und Armut» präsentiert der Autor neue Zahlen zur Bedeutung der sozialen Herkunft für den weiteren Lebensverlauf. Basierend auf einer internationalen Befragung von Menschen über 50 Jahren lässt sich zeigen, dass auch in einem reichen Land wie der Schweiz Zusammenhänge zwischen der sozialen Herkunft und den Chancen und Möglichkeiten im Erwachsenenleben bestehen – und zwar bis ins fortgeschrittene Alter.
Die interaktive Visualisierung veranschaulicht, wie stark diese Zusammenhänge ausfallen. Die Visualisierung unterscheidet bezüglich der sozialen Herkunft drei Ressourcen:
- ökonomische Ressourcen (finanzielle Situation des Elternhauses)
- Bildungsressourcen (Bildung der Mutter und des Vaters)
- kulturelle Ressourcen (gemessen an Büchern im Haushalt).
Das Wohlbefinden im Alter ab 50 Jahren wird durch drei Indikatoren abgebildet:
- subjektiv eingeschätzte Gesundheit
- depressive Erkrankungen
- finanzielle Schwierigkeiten.
So zeigt sich zum Beispiel, dass in Armut aufgewachsene Personen mit 20 Prozent beinahe ein doppelt so hohes Risiko für finanzielle Schwierigkeiten in fortgeschrittenem Alter haben – sowohl im Vergleich zu Wohlhabenden (11 Prozent) als auch zu Menschen aus der Mittelschicht (12 Prozent). Auch hinsichtlich depressiver Erkrankungen ist das Risiko doppelt so hoch: 13 Prozent aller Menschen, die in Armut aufwuchsen, sind in schlechter psychischer Verfassung, während es bei Menschen aus der Mittelschicht lediglich 8 Prozent und bei Wohlhabenden 6 Prozent sind. In gleicher Weise zeigen sich ausgeprägte Unterschiede in Bezug auf die allgemeine Gesundheit. 22 Prozent der Personen mit tiefem sozioökonomischem Hintergrund beklagen eine schlechte Gesundheit. Bei Personen mit mittlerem oder hohem sozioökonomischen Hintergrund kommt dies sehr viel seltener vor (17 bzw. 7 Prozent).
Eine Gesamtpolitik zur Förderung gleicher Gesundheitschancen
Was müsste verbessert werden? Forschende der Berner Fachhochschule trugen Studien zusammen, wie dieser Ungleichheit über alle Lebensphasen hinweg begegnet werden kann. Drei Handlungsfelder scheinen dabei vielversprechend:
- Die sozial bedingte Ungleichheit der Gesundheitschancen kann nur durch eine Gesamtpolitik verringert werden, die neben der Gesundheitspolitik die Bildungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Migrationspolitik umfasst und einen besonderen Fokus auf sozial benachteiligte und von Armut betroffene Personen legt.
- Um vulnerable, von Armut bedrohte Gesellschaftsgruppen besser zu erreichen, sind aufsuchende Angebote vermehrt zu prüfen und einzuführen. Dies würde auch die Kinder vor negativen gesundheitlichen Folgen schützen.
- Kostenbeteiligungen in der Krankenversicherung sind so auszugestalten, dass sozial benachteiligte Personen nicht aus finanziellen Gründen auf medizinisch notwendige Leistungen verzichten.
Entsprechende gesundheitspolitische Massnahmen dienen der Chancengleichheit und können die Gesundheit vieler Armutsbetroffenen langfristig verbessern.
Kontakt:
Literatur und weiterführende Links:
- Börsch-Supan, A., Kneip, T., Litwin, H., Myck, M., & Weber, G. (2015). Ageing in Europe – Supporting Policies for an Inclusive Society. Berlin, Boston: De Gruyter.
- Bourdieu, P. (1986). The Forms of Capital. In: Richardson. In Handbook of Theory and Research for the Sociology of Education (S. 241–258). New York.
- Mariani, M. (2017, Juli 13). The neuroscience of inequality: does poverty show up in children’s brains? The Guardian
- Noble, K. G., Norman, M. F., & Farah, M. J. (2004). Neurocognitive correlates of socioeconomic status in kindergarten children. Developmental Science, 8(1), 74–87.
- Rietveld, C. A., Medland, S. E., Derringer, J., Yang, J., Esko, T., Martin, N. W., … Koellinger, P. D. (2013). GWAS of 126,559 Individuals Identifies Genetic Variants Associated with Educational Attainment. Science (New York, N.Y.), 340(6139), 1467–1471.
- Roemer, J. E. (1998). Equality of opportunity. Cambridge: Cambridge University Press.
- Social Impact #5 (2018): «Arm und krank, ein Leben lang? – Eine koordinierte Gesamtpolitik für die Förderung gleicher Gesundheitschancen.», BFH-Zentrum Soziale Sicherheit, Bern
- Turkheimer, E., Haley, A., Waldron, M., D’Onofrio, B., & Gottesman, I. I. (2003). Socioeconomic Status Modifies Heritability of IQ in Young Children. Psychological Science, 14(6), 623–628.
0 Kommentare