Präsenz statt Prävention – Befähigungskultur in Alters- und Pflegeheimen

In einer dreijährigen Studie des Instituts Alter der Berner Fachhochschule ist in sieben Alters- und Pflegeheimen zum Thema Bewegungsbasierte Altersarbeit geforscht worden. Eine wesentliche Erkenntnis dieser Studie ist, dass den Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern ein sinnstiftender Alltag wichtig ist. Das in Heimen oft ausgeprägte Sturzangstklima wirkt diesem Bedürfnis jedoch entgegen.

Ginge es nach den Bedürfnissen der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner, dann würde in Alters- und Pflegeheimen eine auf den konkreten Alltag ausgerichtete Befähigungskultur gelebt. Das Leben findet für diese Menschen in der Gegenwart statt. Ihnen liegt viel daran, ihre Selbständigkeit und somit ihren Bewegungsradius zu erhalten. Die Studie des Instituts Alter zeigt auf, dass unterstützungsbedürftige Menschen in Alters- und Pflegeheimen durch bewegungsbasierte Alltagsschulung ihre Kompetenzen in Alltagsbewegung erhalten oder sogar weiter entwickeln können. Das zeigt sich darin, dass sie wichtige Aktivitäten wie Aufstehen vom Bett oder vom Boden, Gehen, Treppensteigen wieder erlernen oder sicherer als bis anhin tun können.

Selbständigkeitsförderung und Gemeinschaftsleben

Diese Selbständigkeitsförderung im Alltagskontext hat weitreichende Folgen. Sie wirkt nicht nur einer schleichenden Immobilität, Bettlägerigkeit und Vereinsamung entgegen. Sie ermöglicht auch sinnstiftendes Tun und Erleben in wichtigen psychosozialen Bereichen. So sind Begegnungen mit Menschen innerhalb und ausserhalb des Heims vermehrt möglich.

Vielen Heimbewohnerinnen  und Heimbewohnern wäre es wichtig, mit bedeutungsvollen (Alltags-) Aufgaben etwas zum Gemeinschaftsleben beitragen zu können. Dadurch würden auch das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und der Wille zur Selbstbestimmung gestärkt.

Befähigungskultur als politische Strategie

Eine Befähigungskultur, wie sie oben beschrieben wird, ist von hoher alters-, gesellschafts- und gesundheitspolitischer Bedeutung. Als Gesellschaft sind wir konfrontiert mit den sozialen und finanziellen Folgen des demografischen Wandels. Die Anzahl hochaltriger, unterstützungsbedürftiger Menschen wird zunehmen. Das geltende Anreizsystem im Gesundheitswesen führt zudem zu Kostensteigerungen. Zu Recht ist Selbständigkeits- und Gesundheitsförderung bis ins hohe Alter das prioritäre Handlungsfeld der bernischen Alterspolitik.

Die Realität sieht anders aus

Die Realität in Altersinstitutionen ist jedoch oft nicht selbständigkeits- und gesundheitsförderlich. Die Studie weist darauf hin, dass Heimbewohnerinnen und Heimbewohner einem System ausgeliefert sind, welches Selbständigkeit eher einschränkt anstatt sie zu fördern. Das liegt jedoch nicht an den Mitarbeitenden in den Institutionen. Die massgebenden Faktoren sind struktureller Art: Sturzprävention, Pflegestufenmodell und Mangel an Pflegefachkräften.

  • Sturzprävention orientiert sich an Sturzrisiken. Der Fokus auf Sturzvermeidung lässt ein Angstklima entstehen, welches Stürzen sogar noch Vorschub leistet und in selbständigkeitseinschränkenden Massnahmen im Pflegealltag mündet.
  • Das Pflegestufenmodell ist für Heime ein betriebswirtschaftliches Anreizsystem für höhere Pflegestufen, d.h. für vermehrte Unselbständigkeit der Bewohnenden.
  • Der Fachkräftemangel schliesslich hat zur Folge, dass die Mitarbeitenden ihre ohnehin schon knappen Zeitressourcen auf die funktionalen Pflegehandlungen beschränken, diese zeitaufwändig rapportieren und dokumentieren müssen. Dies geschieht zulasten von professioneller psychosozialer Arbeit, d.h. zulasten der wichtigsten Bedürfnisse der Bewohnenden.

Denkanstösse auf alterspolitischer Ebene

Die Studie liefert verschiedene Diskussionsanstösse in Bezug auf die Alterspolitik. Dazu gehören

  1. die Schaffung eines Anreizsystems, welches in Alters- und Pflegeheimen eine professionelle alltagsbezogene Arbeit auf psychosozialer Ebene fördert,
  2. die vermehrte Ausrichtung des gesellschaftlichen Auftrags in der Altersfürsorge auf Kompetenzentwicklung der Heimbewohnenden und Mitarbeitenden statt auf institutionelle Dienstleistungen
  3. die Vereinfachung struktureller Vorgaben, so dass wieder mehr Zeit in die Arbeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern investiert werden kann.

Empfehlungen für die Institutionen

Institutionen, welche eine Befähigungskultur entwickeln und leben wollen, sollten in alltagsorientierte Weiterbildung investieren, und zwar sowohl für die Mitarbeitenden als auch für die Bewohnerinnen und Bewohner. Übergeordnete Ziele sind dabei Angstreduktion und Aufbau von Vertrauen in die Bewegungsfähigkeiten der Heimbewohnerinnen und Heimbewohner.

 


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