Am 19. Mai 2019 werden die Bernerinnen und Berner über eine Revision des Sozialhilfegesetzes abstimmen, die den Grundbedarf für alle Sozialhilfe beziehenden Personen um 8 Prozent, für einzelne Gruppen um bis zu 30 Prozent kürzt. In der bisherigen politischen Leistungsdebatte schien die Gestaltungsfreiheit des Grossen Rates schier grenzenlos. Tatsache ist aber, dass die Bundesverfassung (BV) drastischen Leistungskürzungen in der Sozialhilfe durchaus Schranken setzt.
Der tagespolitische Diskurs zu den Kürzungen in der Sozialhilfe ist geprägt von emotional gefärbten Voten zu Missbrauch, Finanzierungs- und Kostenfragen und selbstverschuldeter Armut. Weitgehend unerwähnt bleibt, dass die Bundesverfassung als Grundlage unseres Rechts- und Sozialstaates Schranken definiert, an die auch der Gesetzgeber gebunden ist.
Der Schutz der Menschenwürde (Art. 7 BV)
In seiner Kernaussage verlangt das Gebot, die Würde des Menschen «zu achten und zu schützen», den Menschen immer als Subjekt, nie als Objekt zu behandeln. Im Kontext der Sozialhilfe wird eine Person u.a. dann zum Objekt degradiert, wenn sie derart in ihrer physischen Existenz bedroht ist, dass Existenzängste ihr Leben bestimmen und sie einer psychischen Dauerbelastung ausgesetzt wird. Eine Degradierung zum Objekt liegt aber auch dann vor, wenn ein Mensch auf biologische Grundbedürfnisse reduziert und ihm so faktisch die Möglichkeit abgesprochen wird, zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen und am sozialen, kulturellen und politischen Leben seines Umfeldes teilzuhaben. Eine Gesetzgebung, die andauernde soziale Exklusion billigend in Kauf nimmt, verstösst gegen die Menschenwürde.
Das Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV)
Das Diskriminierungsverbot schützt u.a. vor gezielter Ungleichbehandlung, wenn eine Person allein aufgrund ihrer sozialen Stellung herabgesetzt oder ausgegrenzt wird. Die Herabsetzung und soziale Ausgrenzung besteht darin, dass Personen, die Sozialhilfe in einer Höhe beziehen, die knapp das Überleben sichert, allein aufgrund ihrer ökonomischen Situation in anderen Lebensbereichen stigmatisiert werden. So sind beispielsweise die politische Partizipation oder übliche soziale Kontakte massiv erschwert, wenn nicht gar verunmöglicht: so können zum Beispiel Vereinsbeiträge nicht bezahlt werden oder werden Einladungen zum Essen abgelehnt, weil die übliche Gegeneinladung aus finanziellen Gründen nicht möglich ist.
Die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV)
Unter den Schutz der persönlichen Freiheit fällt zum einen die körperliche Unversehrtheit, die zum Beispiel dann verletzt ist, wenn Sozialhilfeleistungen keine ausgewogene Ernährung mehr ermöglichen. Darüber hinaus schützt das Bundesgericht unter dem Titel der persönlichen Freiheit seit Jahrzehnten auch alle sogenannten «elementaren Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung». Diesen lassen sich alle Aktivitäten zuordnen, ohne die eine gesellschaftliche Teilhabe ausgeschlossen oder zumindest stark erschwert wird. Dies bedeutet, dass dem Staat aus Art. 10 BV auch die positive Pflicht erwächst, existenzsichernde Leistungen zu garantieren, die eine minimale soziale Teilhabe ermöglichen. Werden im Sozialhilfegesetz die materiellen Leistungen derart tief angesetzt, dass Personen auf unbestimmte Zeit in allen sensiblen und persönlichkeitsnahen Lebensbereichen daran gehindert werden, am gesellschaftlichen Leben ihres Umfelds teilzunehmen, so liegt eine Verletzung von Art. 10 BV vor.
Gesamtgesellschaftliche Bedeutung
Nicht zu unterschätzen ist die klar befähigende Wirkung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf existenzsichernde Leistungen: Ohne einen Lebensstandard, der einen minimalen finanziellen Spielraum eröffnet und mehr als das nackte Überleben erlaubt, können zahlreiche Grundrechte schlicht nicht gelebt werden. Das gilt etwa für das Recht auf Ehe und Familie – weil allein schon die direkten Kinderkosten eine minimale finanzielle Sicherheit erfordern – oder auch für die politischen Rechte, zu deren Wahrnehmung eine stimmberechtigte Person Zugang zu Radio, Fernsehen, Internet oder Zeitungen benötigt und in der Lage sein muss, den Mitgliederbeitrag einer politischen Partei zu entrichten.
In der Sozialhilfe ein Leistungsniveau zu garantieren, das eine soziale Teilhabe ermöglicht, hat daher über die individuelle Ebene hinaus eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung: Ein Staat, der Armutsbetroffene auf Dauer vom sozialen und politischen Leben ausschliesst, riskiert, dass eine Bevölkerungsgruppe langfristig in die Perspektivlosigkeit abrutscht, und gefährdet dadurch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
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