Wie viel Ungleichheit darf es sein?

Ungleiches Paar Schuhe

Foto: istock.com/monstArrr_

Menschen, die deutlich zeigen, dass sie schöner, reicher, klüger und erfolgreicher als die anderen sind, werden häufig scheel angeschaut. Warum ist das so?

Geht es um die Gestaltung unseres Zusammenlebens, ist Gleichheit einer unserer Grundwerte. Vermögen und Einkommen, Bildungs- und Gesundheitschancen, aber auch Lebenschancen insgesamt werden im Hinblick auf Gleichheit beurteilt. Ungleichheit scheint unsozial und ungerecht – und muss korrigiert werden. Fernziel ist eine egalitäre Gesellschaft mit gleicher Verteilung bestimmter Rechte, Güter, Ämter und Positionen.

Dahinter steht ein berechtigtes Anliegen. Der eine ist gesund bis in hohe Alter, der andere kommt mit schweren Behinderungen auf die Welt, die eine ist hochintelligent, die andere hat Mühe, schreiben zu lernen. Talente und Fähigkeiten sind ganz offensichtlich unterschiedlich verteilt. Diese Ungleichheiten scheinen irgendwie «unfair», denn sie vermindern die Chancen des Einzelnen auf Erfolg und Ansehen. Es gehört zu den Grundüberzeugungen unserer Gesellschaft, solche natürlichen Ungleichheiten bis zu einem gewissen Mass ausgleichen zu müssen.

Aber auch die Herkunft aus bestimmten ökonomisch-kulturellen Milieus sorgt für unterschiedliche Startbedingungen ins Leben. Eine zentrale Aufgabe unseres Staates besteht darin, diese nicht selbst verschuldeten (also unverdienten) ungleichen Lebensaussichten auszugleichen. Staatliche Schulen sollen eine gewisse Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche herstellen. Auf diese Weise soll ermöglicht werden, dass alle später als Erwachsene aus eigener Kraft ein anständiges Leben führen und Erfolg haben können.

Egalitarismus im Prinzip unbestritten

Kaum jemand möchte auf die hier nur kurz skizzierte Idee sozialer und politischer Gleichheit verzichten. Insofern hat sich der «Egalitarismus», wie diese Idee in der Philosophie heisst, bei uns durchgesetzt. Allerdings gilt das nur auf einer allgemeinen Ebene.

Sobald es konkret wird, ist eigentlich nur die Frage der politischen Gleichheit unbestritten: Alle dürfen wählen und stimmen, jede Stimme zählt gleich viel, die politischen Ämter müssen für alle Bürgerinnen und Bürger eines Landes prinzipiell offen sein. Sobald es um weitere Bereiche geht, beginnen die Diskussionen darüber, wie weit der Ausgleich von Ungleichheit gehen, wie eine egalitäre Gesellschaft aussehen soll. Inwieweit sollen ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung durch Steuersysteme ausgeglichen werden? Impliziert Chancengleichheit, dass es einen moralisch legitimen Anspruch von Frauen auf proportionale Vertretung in Verwaltungsräten von Unternehmen gibt? Sollen Menschen aus dem Ausland die gleichen sozialen Rechte wie Schweizerinnen und Schweizer haben?

Was das Ideal der Gleichheit im Einzelnen erfordert, ist alles andere als klar. Ein Konsens ist in weiter Ferne. Offensichtlich kommt es im Bereich der Gleichheitsthematik zu nicht auflösbaren Meinungsverschiedenheiten. Mehr noch: Ist eine Fixierung auf Gleichheit nicht geradezu lebensfremd? Es sind doch gerade die vielen Unterschiede und Ungleichheiten zwischen Menschen, die unser Leben und unsere Beziehungen interessant und lebenswert machen. Ja, könnte man hier einwenden, aber dabei geht es nicht um moralisch relevante Ungleichheiten.

Ungleichheit kann auch verdient sein

Bleiben wir also bei der Moral: Wenn wir über politische und soziale Gleichheit reden, bewegen wir uns in der Regel auf dem Feld der Moral, genauer auf dem Feld der Gerechtigkeit. Das Gleichheitsprinzip ist ein zentrales Gerechtigkeitskriterium. Im Alltag setzen wir weitere Gerechtigkeitskriterien ein. Wer akzeptiert, dass Lohnungleichheiten kein grundsätzliches Problem sind, wird das in der Regel mit Verweis auf das sogenannte Verdienstprinzip tun. Jemand verdient etwas (im Sinne des englischen «to deserve»), weil er oder sie etwas geleistet oder investiert hat. Weil dieser Input und die entsprechenden Outputs sehr unterschiedlich sind, kommt es zu ungleichen Einkommen und mit der Zeit zu ungleichen Vermögen. Es wäre in Bezug auf die Menschen, die viel geleistet und investiert haben, unfair, hier Gleichheit zu fordern. Ungleichheit kann moralisch legitim sein.

Kommen wir nochmals auf den egalitaristischen Grundsatz «Niemand soll aufgrund unverdienter Umstände schlechter dastehen als andere» zurück. Der Staat wäre völlig überfordert, müsste er diesen Grundsatz wirklich konsequent umsetzen. Früher oder später muss auch in der wohlhabenden Schweiz jede und jeder sich selbst in seiner oder ihrer Lebensführung in ein Verhältnis zur faktischen Ungleichheit setzen. Die einen stehen ökonomisch gut da, andere schlecht, die einen haben Erfolg, andere nicht, die einen sind gesund, andere nicht, die einen sind schön, die andern nicht. Zu einem gelingenden Leben gehört es, vorliegende Ungleichheiten sein zu lassen, sich nicht an ihnen aufzureiben. Andere verdienen mehr als ich? Daran lässt sich kaum etwas ändern, es sei ihnen gegönnt, Neid ist letztlich keine Option. Andere werden mehr wertgeschätzt als ich? Es sei ihnen gegönnt, spätestens beim Sterben sind wir dann alle wieder gleich.

Unverdientes erkennen und annehmen

Klingt das zynisch? Zynismus lässt sich nur vermeiden, wenn diejenigen, denen es gut geht, nicht vergessen, warum es ihnen gut geht: Ihr Einkommen und Vermögen, ihre Stellung in der Gesellschaft und ihre Reputation hängen von zahlreichen Voraussetzungen ab, die sie nicht selbst geschaffen haben, also unverdient sind. Ja, sogar, was einer zu leisten vermag, hängt in vielerlei Hinsicht von Umständen ab, die er oder sie nicht selbst geschaffen hat. Wer wahrnimmt, dass er oder sie aus dem Unverdienten lebt, wird auch bereit sein, dankbar zu geben, von dem, was er oder sie hat. Sei es in Form von Steuern, Spenden oder Zeit.

Wie also mit Ungleichheit umgehen? Hier drei Vorschläge zum Abschluss: Engagieren wir uns gegen soziale und politische Ungleichheiten, die unverdient und nicht selbstverschuldet sind. Finden wir uns ab mit den Ungleichheiten, die nicht zu ändern sind. Freuen wir uns an den Ungleichheiten, die unser Leben und unsere Beziehungen interessant machen.

 


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1 Kommentare
  • Jan

    Antworten

    «Andere verdienen mehr als ich? Daran lässt sich kaum etwas ändern, es sei ihnen gegönnt, Neid ist letztlich keine Option.»
    Die Frage des Einkommens, ist eben tatsächlich auch eine moralische aber nicht so wie von ihnen behauptet. Bidlung, Schönheit usw. wird normiert und ist teil eines ökonomischen Kapitals das durch die Institutionen Familie & Schule weitergegeben wird. Dazu gehört auch das von ihnen erfolgreich ausgeblendete Erbe. Neid zu unterstellen ist in dem Fall reine Projektion ihrerseits. Faktisch ist es Unterwerfung und Gehorsam.

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